MCS: Wenn Gerüche zur Gefahr werden


27. Oktober 2006. Das Leben außerhalb der eigenen Wohnung ist für Cornelia van Rinsum riskant. Denn „draußen“ ist die Luft belastet mit Abgasen, Zigarettenqualm und anderen Schadstoffen. Aber auch Spuren von Parfum, Rasierwasser oder Weichspüler stellen für sie eine Gefahr dar. Auf diese Chemikalien reagiert die Dreiundfünfzigjährige nämlich allergisch, ihr Immunsystem spielt verrückt: Sie bekommt kaum noch Luft, die Welt um sie herum fängt an, sich zu drehen, und sie reagiert immer langsamer. Manchmal kippt Cornelia van Rinsum auch einfach um, weil sich irgend jemand Deo unter die Achseln sprüht, eine Creme auf die Haut aufträgt oder ein Duftstein in der Toilette liegt.



 Cornelia van Rinsum hält sich am liebsten fern der Stadtgerüche auf

„Die Gifte fressen sich bis ins Gehirn“, sagt Rinsum, eine ruhige, ausgeglichen wirkende Frau, die überlegt spricht und der man ihr Alter nicht ansieht. Richtig sicher fühlt sie sich eigentlich nur noch in den eigenen vier Wänden. Sie lebt in Heusenstamm in einer Wohnung im siebten Stock - weit weg von den Gerüchen der Innenstadt. Vom Balkon aus sieht sie den Wald. Die Fenster im Wohnzimmer und im Badezimmer stehen offen, damit es ordentlich zieht und sie frei atmen kann.

 

  • Atemnot, Krämpfe, völlige Erschöpfung

 

Die Möbel im Wohnzimmer sind schon mehr als zwanzig Jahre alt, aber die Ausdünstungen neuer Holze und Polster würde sie nicht vertragen. „Ich würde sofort puterrot anlaufen.“ Seit einiger Zeit reinigt Rinsum ihre Wäsche mit indischen Nüssen aus dem Reformhaus, damit möglichst keine Chemikalien mehr an ihre Kleidung gelangen. Es war 1997, als sich ihr Alltag schlagartig änderte. Damals stellte ihre Ärztin die Diagnose „MCS“ - Multiple Chemische Sensibilität. Vermutlich haben Lösungsmittel die Krankheit ausgelöst. Ihr Arbeitgeber war in einen Rohbau gezogen, innerhalb weniger Wochen wurden Teppiche verlegt, Raumteiler gesetzt und Wände gestrichen. „Ich kam in den Raum, und mir blieb die Luft weg vor lauter Dämpfen.“ Sie reagierte mit Atemnot, Krämpfen, völliger Erschöpfung. Noch heute brauche sie manchmal drei Tage, um sich von den Symptomen zu erholen. Rinsum hat damals eine Selbsthilfegruppe gegründet, um sich mit anderen auszutauschen und damit Betroffene merken, daß sie nicht allein sind.

Einer von ihnen trägt seine dunkle Sonnenbrille hoch auf der Nase, damit ihn das Licht nicht so schmerzt. Es sticht im Kopf. Er ist 50 Jahre alt und möchte seinen Namen nicht nennen, weil er seit elf Jahren um seine Rente kämpft. Er fürchtet sich, hat Angst vor dem, was noch alles auf ihn zukommt. Die Symptome werden mit jedem Tag schlimmer: Er kann keinen Supermarkt mehr betreten, kein Flugzeug besteigen, kein Schwimmbad aufsuchen, nicht einmal mehr mit dem Bus fahren. Er meidet die Zivilisation, soweit es geht.

Vor 14 Jahren war er das erste Mal zusammengebrochen. „Ich hatte bis dahin mein ganzes Leben lang inmitten von Giften gearbeitet“, sagt er. Er hatte lange Zeit als Automechaniker sein Geld verdient, manchmal bei geschlossenen Toren und blubbernden Motoren unter den Wagen gelegen und geschraubt. Bis er krank wurde. Eine Untersuchung habe ergeben, daß der Quecksilberanteil in seinem Körper um ein Vielfaches zu hoch sei. „Er ist bis zum Hals voll damit“, sagt Cornelia van Rinsum. Nach Angaben von Umweltmedizinern werden immer mehr Menschen durch Gerüche krank. Auslöser können Insektensprays, Farbe, Duftstoffe und vieles mehr sein. Die Chemikalien greifen das Immunsystem an, bis es schließlich zusammenbricht. Dann beginnen lange Leidenswege. Zwar versuchen sich die Betroffenen zu organisieren und für ihr Anliegen - eine möglichst geruchsfreie Umwelt ohne Chemikalien - zu kämpfen. Aber es ist ein aussichtsloser Kampf. „Wir alle müssen unser Bewußtsein für diese Problematik noch viel mehr schärfen“, sagt Cornelia van Rinsum.

  • „Ich bin hilflos“

 

Auch die Heusenstammerin mußte erst lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Nachdem die Krankheit festgestellt worden war, blieb sie zunächst monatelang daheim. Eine Nachbarin kaufte für sie ein. Später hat sich Rinsum sämtliche Metallfüllungen aus den Zähnen entfernen lassen. Die mehrere Jahre dauernde Prozedur war Teil ihrer Entgiftung. Und sie hat ihren Geruchssinn geschärft: „Ich rieche wie ein Tier.“ Wenn einer sieben Stockwerke tiefer Unkrautvernichtungsmittel spritzt oder jemand im Haus neue Möbel bekommt, dann erschnuppert sie das sofort.

Aber nicht nur die eigentliche Krankheit ist das Problem. „Viele denken ja noch immer, daß wir Spinner sind“, sagt Rinsum. Daß sie simulierten und psychisch gestört seien. Der 50 Jahre alte Leidensgenosse war sogar zwei Monate in der Psychiatrie, weil ihm niemand seine Beschwerden abnahm. Tatsächlich verschlimmerten sich dort seine Leiden noch - wegen des scharfen Putzmittels, dessen Geruch sich in den Gängen ausbreitete und ihm beinahe das Bewußtsein raubte. „Heute bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich sage: Ich bin hilflos.“ Schon das Staubsaugen strenge ihn so an, daß er sich danach Stunden ins Bett legen müsse.

Rinsum hat einen Teppich, der mit Flohmittel in Kontakt gekommen war, acht Jahre lang auf dem Balkon ausgelüftet und den Geruch danach noch immer nicht vertragen. Schließlich hat sie ihn für viel Geld waschen lassen, jetzt liegt er wieder im Flur. Gern würde sie neue Möbel dazustellen: einen Schrank, der nicht so massiv ist wie der alte, einen Tisch und eine passende Sitzecke. Vielleicht wird sie es sogar wagen und hoffen, daß es gutgeht. Aber sobald der Kopf rot anläuft, weiß sie, daß die Möbel wieder hinausmüssen.


Text: F.A.Z., 27.10.2006  - Bildmaterial: F.A.Z. - Eilmes

 

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