"Der Staub wirbelte- und keiner warnte uns!"
 
 
Diese Dokumentation wurde im Mai 1989 (überarbeitete Auflage); des Mitteilungsblattes "sicher arbeiten" in der Sonderausgabe "Asbest" von der Maschinenbau- und Metall BG veröffentlicht."
 
Auf Ihrer Lunge ist ein Schatten, den ich mir nicht erklären kann. Sie sollten zur Sicherheit möglichst bald einen Lungenfacharzt aufsuchen."
 
Diese Mitteilung bei einer Routineuntersuchung auf Empfehlung des Arbeitgebers im Jahre 1965 verunsicherte die heute 74-jährige Anny Stapelfeldt nach ihren Aussagen sehr. "Was machte ich mir nicht alles für Gedanken. Aber da ich keine Beschwerden verspürte, hoffte ich: so schlimm wird es wohl nicht sein."
Die sich anschließenden Untersuchungen brachten zunächst keine Klarheit. Von den Ärzten wurde zwar ein krankhafter Befund der Lunge festgestellt, eine genaue Diagnose war aber nicht möglich. Erst die Untersuchung in einer Spezialklinik ergab: Asbestose. "Ich war niedergeschlagen und überrascht. Zunächst konnte ich mich nicht daran erinnern, ob, wann und wie lange ich im Laufe meines Berufslebens mit Asbest in Berührung gekommen war.
 
Erst nach einigen Überlegungen fiel mir wieder ein, daß ich nach der kaufmännischen Ausbildung keine Stelle im Lehrberuf fand und zwischen 1934 und 1937 etwa drei Jahre in einer Fabrik als Arbeiterin Glasgesinst verpackt hatte. Neben diesen Arbeitsplätzen in einer großen Halle wurde Asbest verarbeitet. Jeden Tag nach Feierabend haben wir unsere und die Asbestarbeitsplätze mit Besen gesäubert, d.h., die Reste wurden von den Tischen auf den Boden und dann zusammengefegt.
Dabei wirbelte oft viel Staub auf, daß wir husteten und uns die Augen tränten. Schutzmasken gab es keine. Uns hat auch nie einer der Vorgesetzten gesagt, die Arbeit mit Asbest sei gesundheitsgefährdend.
Aber wahrscheinlich wußten es die Vorarbeiter und Meister auch nicht besser. Beschwerden-außer den beschriebenen beim Aufräumen-habe ich nicht gehabt.
 
Anfang 1937 mußte ich dann aufgrund familiärer Ereignisse die Arbeit aufgeben. Einige Monate später hätte ich wieder bei der gleichen Firma anfangen können. Beim Gang durch den Betrieb an meinem früheren Arbeitsplatz bekam ich jedoch einen solchen Hustenreiz und Hautjucken, daß ich lieber eine kurze Zeit der Arbeitslosigkeit in Kauf nahm, bevor mir 1938 in meinem erlernten Beruf eine Anstellung angeboten wurde. Seit dieser Zeit bin ich nie wieder beruflich mit Asbest in Berührung gekommen, sondern habe im Büro gearbeitet."
 
Diese Schilderung macht deutlich, wie tückisch der jahrzehntelang in Schiffen, Turnhallen, Bürogebäuden, Schulen, Theatern, Bremsen und anderswo verarbeitete Werkstoff ist, über den der "Große Duden" (Fremdwörter) lapidar mitteilt: "Asbest-mineralische Faser aus Serpentin oder Hornblende; Asbestose: Staubkrankheit der Lunge."
 
Wie Anny Stapelfeldt geht es vielen Ihrer Lebensgefährten: im Laufe eines oft langen Berufslebens besteht nur kurze Zeit Kontakt zu Asbest und Beschwerden treten - zunächst als andere Krankheiten behandelt - erst nach Jahrzehnten auf.
Auch die 1914 geborene Gunda Wiehl mußte von 1935 bis 1938 - mehr gegen ihren Willen - Asbest in Matten für U-Boote nähen. Vorher und nachher hatte sie nie mit diesem Werkstoff zu tun. Frau Wiehl berichtete über das Auftreten der Krankheit: "Ich wurde etwa 1968/69 erstmals wegen eines hartnäckigen Hustens mit schleimigen Auswurf behandelt, der sich nicht zurückbildete.
 
Die Hausärztin schickte mich zum Lungenarzt, der in eine Spezialklinik. Das Ergebnis nach vielen Untersuchungen: "Verdacht auf Asbestose." Dann auch hier die Frage: wann, wo und wie lange bestand Kontakt zu Asbest?
 
Die Ermittlungen in solchen Fällen sind schwierig und zeitraubend, wenn die sogenannte Expositionszeit 30 Jahre und mehr zurückliegt. Unterlagen aus den Personalbüros der früheren Arbeitgeber sind dann häufig nicht mehr zu bekommen, oder es wird bestritten, daß seinerzeit Arbeitnehmer Kontakt zu Asbest hatten bzw. Asbest verarbeitet wurde.
 
Auch die "Geschichte" des heute 51 Jahren alten Karl-Friedrich Maack unterscheidet sich kaum von den vorherigen.
Beschwerden, die sich später als Folge einer Asbestose herausstellten, traten erst auf, als er schon fast acht Jahre nichts mehr beruflich mit Asbest zu tun hatte.
 
Bei einer Wanderung hatte ich plötzlich nach einigen Kilometern Luftnot und Schmerzen in der Brust. Mein Hausarzt konnte nichts feststellen. Nach einiger Zeit überwies er mich zum Röntgologen.
Der äußerte den Verdacht, ich hätte eine nasse Rippenfellentzündung durchgemacht und die sei nicht konsequent behandelt worden.
 
Der Hausarzt war mit dieser Auskunft jedoch nicht zufrieden und schickte mich - da sich die Beschwerden überhaupt nicht zurückbildeten - zur Untersuchung in eine Lungenklinik. Erst dort wurde nach langwierigen Untersuchungen der Verdacht auf Vorliegen einer Asbestose geäußert." Hier waren die Ermittlungen, was den Zeitpunkt und die Dauer der Asbestexposition anlangte, einfacher als in den vorher geschilderten Fällen.
Die ersten Beschwerden traten etwa 1974 auf, von 1955 bis ca. Mitte 1966 hatte Karl-Friedrich Maack bei einer Firma vor allem Spritzasbest verarbeitet. Es kam jedoch zu anderen Schwierigkeiten. Karl-Friedrich Maack: "Die Probleme für mich begannen, als mein früherer Arbeitgeber Anfragen der Ärzte, der Berufsgenossenschaften und der Krankenkasse mit dem Hinweis beantwortete, ich wäre dort überhaupt nicht beschäftigt gewesen, außerdem sei kein Asbest verarbeitet worden.
 
Warum solche Auskünfte erteilt wurden, habe ich bis heute nicht begriffen, jedenfalls hat sich das gesamte Anerkennungsverfahren dadurch verzögert und meine Nerven wurden strapaziert!"
 
 Im Gegensatz zu Anny Stapelfeldt und Gunda Wiehl hat Karl-Friedrich Maack erst ca. 20 Jahre später mit Asbest gearbeitet.
Es drängt sich daher die Frage auf, gab es jetzt Hinweise der Vorgesetzten, Asbest sei gefährlich, mußten Schutzmasken getragen werden?
 
Karl-Friedrich Maack: "Aufklärung im Betrieb erfolgte nicht. Ob unsere Vorgesetzten selber wußten, wie gefährlich Asbest für uns und sie war, kann ich nicht sagen.
Meinen Kollegen und mir hat jedenfalls nie ein Vorarbeiter, Meister oder Montageleiter erklärt, Asbest sei gefährlich, gar lebensgefährlich. Schutzmasken gab es. Die Filter darin waren jedoch so beschaffen, daß wir manchmal schon nach zwei, drei Stunden Arbeit mit der Maske keine Luft mehr bekamen; Ergebnis, sie wurden sehr wenig getragen - und andere, mit besseren Filtern bekamen wir nicht.
 
Wir erhielten allerdings jeden Tag als Mitarbeiter der Asbestkolonne kostenlos einen halben Liter Milch. Wegen der Staubentwicklung bei der Arbeit!"
 
Ähnliche Erfahrungen machte der 53-jährige frühere Maurer Peter Biederich, der von 1965 bis Anfang 1972 überwiegend als Asbestspritzer arbeitete. "Unsere Arbeit war extrem staubig.
 
Vor allem bei Spritzarbeiten auf Schiffen sahen wir häufig schon nach einer Stunde nicht mehr den neben uns stehenden Kollegen, Schutzmasken hatten wir. Da wir unter den Masken nur schwer Luft bekamen, wurden sie jedoch kaum benutzt. Mir hat nie jemand gesagt, die Arbeit mit Asbest sei gefährlich.
 
Als bei einer Reihenuntersuchung vom Arzt der Verdacht auf Asbestose geäußert wurde, durfte ich bei meiner Firma nicht mehr an dem bisherigen Arbeitsplatz beschäftigt werden.
 
Eine andere Stelle bot mir die Personalabteilung nicht an. Ich wurde entlassen und habe dann eine Umschulung gemacht. Arbeiten kann ich aber schon lange nicht mehr. Bei meinem letzten Gespräch in der Firma traf ich den Betriebsleiter und sagte ihm, er solle sich untersuchen lassen, er würde auch Asbestose bekommen.
 
Seine Reaktion: ich habe doch immer nur Aufsicht geführt, das glaube ich nicht. Vor zwei Jahren ist er gestorben, an den Folgen einer Asbestose."
 
"Keiner sieht uns die Krankheit an" "Natürlich kann ich ohne fremde Hilfe essen und trinken. Natürlich kann ich mir ein Frühstück oder Mittagessen zubereiten. Nur, ich bin aufgrund der Asbestose nicht in der Lage, die zur Essenszubereitung nun einmal notwendigen Lebensmittel einzukaufen. Nach 100 Metern mit einem zwei oder drei Kg schweren Einkaufsnetz an der Hand bricht mir der Schweiß aus. Ich bekomme Schmerzen in der Brust, keine Luft mehr und muß eine Pause machen. Da wird jeder Einkauf zur Qual!“
 
Wie dem Junggesellen Peter Biederich, der verwitweten Anny Stapelfeldt oder Karl-Friedrich Maack geht es den meisten schwerbehinderten Asbestose-Kranken: Sie sind ständig auf "fremde Hilfe" angewiesen.
 
Da werden nur zwei Treppen zur Wohnung im 1.Stock zum fast überwindbaren Hindernis. Peter B. ist deshalb vor einigen Jahren in eine Parterrewohnung umgezogen. Er hatte das Haus nur noch ganz selten verlassen. Bei alleinstehenden Asbestose-Kranken wirken sich die Behinderungen besonders belastend aus, da kein Ehemann oder Kinder helfen können.
 
"Fremde" müssen um Hilfe gebeten werden und die muß dann häufig auch noch zeitlich und personell "organisiert" werden.
 
Wie Peter Biederich kann Anny Staplerfeldt z.B. seit Jahren nicht mehr den Hausflur wischen, die Wohnung säubern, die Fenster putzen. Sie hat hierfür manchmal eine, verschiedentlich auch mehrere Hilfen eingesetzt (denn es ist keineswegs immer so, daß eine Putzhilfe für die Wohnung auch einen Hausflur wischt!).
 
Peter Biederich hat seit einigen Monaten das Glück, regelmäßig von einem Zivildienstleistenden besucht zu werden.
Dieser erledigt alle notwendigen Einkäufe, wäscht, bügelt, säubert die Wohnung, putzt die Fenster, den Hausflur - und kocht auch gelegentlich. Natürlich kostet das Geld.
 
Aber der Schwerbehinderte zahlt die Pauschale an den zuständigen Wohlfahrtsverband gern, da erstmals seit Jahren eine Person zuverlässig all` diese Dinge erledigt, für die früher mehrere (Nachbarn, Bekannte etc.) erforderlich waren, auf die er sich keineswegs immer verlassen konnte.
 
Nur wer es selbst einmal erlebt hat, weiß, welche Probleme z.B. mit Nachbarn, Hausbesitzern entstehen können, wenn der Hausflur nicht regelmäßig gewischt wird (selbst wenn bekannt ist, daß es sich bei dem Mieter der Nachbarwohnung um einen Schwerbehinderten handelt).
 
Hier wird ein weiteres Problem der Asbestose-Kranken sichtbar: Ihre Behinderungen sind für Außenstehende unsichtbar.
 
"Sie glauben ja nicht, wie oft ich mir in Bussen und Bahnen ungeduldige oder auch verletzende Bemerkungen von Fahrgästen aber auch Fahrern anhören muß, weil ich wegen Luftnot nicht schnell genug die Stufen in den Bus oder zur Bahn hinaufsteigen kann bzw. einen Sitzplatz beanspruchen möchte", erzählt Anny Stapelfeldt.
 
Karl-Friedrich Maack ist früher gern mit seiner Lebensgefährtin zum Einkaufen gegangen.
 
Seit er jedoch immer wieder dumme Bemerkungen zu hören bekam, weil er nicht beim Tragen der schweren Einkaufstasche helfen konnte und ohne Netz, Tüte oder Tasche neben der Frau herging, hat er sich diese Begleitung zum Einkauf ("Die mir immer eine willkommene Abwechslung war") abgewöhnt.
 
Bemerkungen wie "Guck mal, der große, starke Kerl läßt seine Frau alles alleine schleppen" tun weh, vor allem, wenn man diese Arbeiten gern selbst verrichten würde.
 
Karl-Friedrich Maack: "Für viele unserer Mitbürger sind nur die behindert, die im Rollstuhl sitzen, die eine sichtbare Prothese oder Blindenbinde tragen, daß auch "äußerlich" gesund aussehende Menschen schwerbehindert sein könnenverstehen die meisten nicht und verhalten sich leider auch entsprechend.
 
Da ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig."
 
 
Diese Reportage ist zwar von 05/1989 aufgrund der Spätfogen aber immer noch aktuell. Es hat sich wenig bis garnichts geändert - und wird uns noch auf Jahre begleiten, leider.